Kennst Du das auch: nach dem Tod Deines Herzensmenschen oder Herzenstier bekommen Alltagsgegenstände plötzlich einen ganz anderen Stellenwert. Sie können Erinnerungsstücke sein, die eine Verbindung zu den Lieben herstellen. Eine Brücke zwischen Leben und Tod. (Wichtig: dies gilt nicht für alle Trauernde. Wenn Du das anders siehst und fühlst ist das vollkommen in Ordnung!)
Eineinhalb Jahre nach dem Tod meiner Mutter habe ich über meinen damaligen Blog ein Zwiegespräch mit ihr geführt. Und dabei spielte eine Zitronenpresse eine große Rolle.
Stell Dir vor Mama: Vor ein paar Tagen habe ich die Zitronenpresse weggeschmissen. Genau, die alte braune. Die, die Du mir vor so vielen Jahren überlassen hast, nachdem Du Dir eine elektrische angeschafft hattest.
Das olle Plastikding hatte ja schon länger recht schäbig ausgesehen, aber ich konnte sie einfach nicht weg tun. „Du bist doch stark! Du kannst das!“, höre ich plötzlich Deine Stimme. Und obwohl Du tot bist und ich Dir doch nun wirklich nichts nachtragen sollte, werde ich bei dieser Aussage echt wütend. Stinkewütend. DAS darf Trauer nämlich auch. Einfach mal wütend sein.
Aber zurück zu der Zitronenpresse. Oder wie es überhaupt dazu kam, dass ich sie nicht hergeben wollte. Als Du am 22. Mai 2017 gestorben bist, warst Du gerade einmal für einen Moment allein in Deinem Zimmer im Pflegeheim. Kurz vorher warst Du gewaschen und umgezogen worden und ich hatte Dir gesagt, dass ich um kurz nach 9 Uhr wieder da sein würde. Und als ich dann die Tür öffnete, kam mir ein Geruch entgegen, den ich nicht einmal mehr beschreiben kann. Aber ich wusste sofort: Du warst gestorben. Und so war es dann auch. Du lagst friedlich in Deinem Bett. Deine Augen ein klein wenig geöffnet. Deine Gesichtszüge entspannt.
Im Januar hattest Du eine Lungenentzündung bekommen und warst mit akutem Sauerstoffmangel im Krankenhaus, auf der Intensivstation, gewesen. Und seitdem wussten wir, dass Du Deinen letzten Weg in diesem Leben angetreten hattest. Wie lange es dauern würde… dass wusste natürlich niemand. Und wie bei Vielen gab es auch bei Dir noch einmal einen Aufschwung. Du hast sogar noch einmal Mundharmonika gespielt.
Aber nun… nun warst Du tot. Aber ich war ja vorbereitet. Ich stand da, an Deinem Bett und ich weiß gar nicht mehr, ob ich weinte. Ich weiß, dass ich Deine Wangen streichelte, Deine Hände. Ich wollte Dich so viel wie möglich berühren, damit ich letzte Erinnerungen sammeln konnte. Und bis heute weiß ich ganz genau, wie sich Deine Haut unter meinen Fingern anfühlt. Wie es ist Dich zu umarmen. Deine Wangen zu küssen.
Ja, ich war vorbereitet. Ich wusste, dass Du sterben würdest. Und dass Du mit 87 Jahren ein schönes Alter erreicht hattest. Wir hatten sogar noch Deinen 87. Geburtstag im kleinen Kreis feiern können. „Das war der schönste Geburtstag meines Lebens“, hast Du gesagt. Obwohl Du zwischendurch immer mal wieder wie weggetreten gewirkt hast. Dein Enkel hat mit seinem Handy an die 400 Fotos von diesem Nachmittag gemacht. Wir haben im Grunde ein Daumenkino davon.
An diesem 22. Mai habe ich die Fenster weit geöffnet, damit Deine Seele hinaus in den Sonnenschein fliegen kann. Du hast doch den Frühling immer so geliebt! Und dann habe ich geholfen, Dich zu waschen, Deine Augen zu schließen, was im Film so leicht aussieht und bei Dir dann doch nicht so einfach war. Dein Gebiss haben wir Dir noch wieder eingesetzt. Das war Dir immer wichtig und ich wusste, dass Du es so haben wolltest. Stimmt doch, oder?!
Ich war gut vorbereitet auf Deinen Tod. Die Telefonnummer des Bestatters, den ich bereits ausgewählt hatte, wusste ich auswendig. Als die Mitarbeiterin mir sagen wollte, was ich bei dem Termin am kommenden Tag mitbringen müsste, habe ich sie unterbrochen: „Danke, aber ich habe schon alles zurecht gelegt.“ Ja, ich wusste längst, was ich brauchen würde. Geburts- und Heiratsurkunde. Dass und noch mehr hatte ich auf meiner Checkliste abgehakt, in einen Ordner geheftet, den ich nur noch aus dem Regal ziehen musste.
Und natürlich hatte ich bereits Monate vorher – es war ja Dein Wunsch gewesen, dass die Bestattung schon ansatzweise geklärt werden sollte und Du hast nach meinen Fragen, es mir überlassen mit den Worten: „Mach, wie Du es für richtig hältst“ – einen Baum im Ruheforst ausgesucht. Eine kleine Kastanie, die es inmitten von Buchen wirklich schwer hat. So wie es in Deinem Leben immer gewesen war. Aber sie hat sich durchgekämpft – genau wie Du – und sich zu einem kleinen hübschen Baum gemausert.
Ja, dank der Vorbereitungen blieb an diesem Tag Zeit, um durchzuatmen. Nach all den Monaten an Deinem Kranken- / Sterbebett bin ich einfach mit Holger essen gegangen. Ganz gemütlich, innig. Ich weiß, dass Dir das gefallen hat.
Die folgende Zeit habe ich dann die Trauerfeier vorbereitet – die Sängerin mit ihrer Gitarre war doch wundervoll oder? Wie sie Dein Lieblingslied „Muss i denn zum Städtele hinaus“ gespielt und wir alle zusammen gesungen haben! – und dann war auch dieser Tag vorbei.
Zuhause stellte ich einen kleinen Tisch auf und versammelte darauf Dinge, die Dir lieb waren. Deine Stoffteddys, die Du damals Deinem Enkel geschenkt hattest und sie dann selber gehütet hast, als er zu alt dafür geworden war. Deine Tischdecken, die Du selten benutzt aber nie weggeschmissen hast. Dinge aus der Natur, die mich daran erinnern, dass Du immer einen Blick für die Schönheit der Natur hattest. Das letzte gemeinsame Foto von uns Beiden an Deinem Geburtstag. Und eine Collage, wo ich alles draufgeklebt habe, was Dich und mich und uns gemeinsam ausmacht.
Tja. Ich hatte es geschafft. Gut geschafft. Ja, ich habe auch geweint. Aber die meiste Zeit ging es mir gut. Ich war einfach dankbar für die Zeit, die wir zum Abschied nehmen hatten. Dankbar dafür, dass Du zum Schluss nicht noch einmal ins Krankenhaus musstest. Dankbar für all die Jahrzehnte, die wir – meist in Liebe – miteinander hatten. Der Tod gehört eben zum Leben. So einfach ist das.
Und dann kam das Jahr 2018. Und ich klappte zusammen. Einfach so. Nein, nicht einfach so. Meine Mutter war gestorben. Meine Mutter war gestorben? MEINE MUTTER WAR GESTORBEN!! So schrie und tobte es in mir. Ich weinte. Ich war verzweifelt, fühlte mich trotz der liebevollen Zuwendung von meinen Liebsten so verdammt allein.
„Aber Du bist doch stark! Du schaffst das!“ Höre ich da Deine Stimme etwa schon wieder? Nein Mama. Ich bin nicht stark. Nicht immer. Und Dein Verlust, der hat mich einfach umgehauen. Du fehlst. Du fehlst an allen Ecken und Enden. Ich habe mir in den vergangenen Monaten immer wieder Deinen letzten Anruf auf unserem Anrufbeantworter angehört. Die Videos angeschaut, auf denen Du Mundharmonika spielst. Fotos angesehen. Deine Unterlagen und Briefe und Erinnerungen in eine Kiste getan, um sie irgendwann hervorzuholen und mir anzuschauen.
Und ich hatte mein Herz an eine olle Zitronenpresse gehängt. Nicht, weil sie hübsch war oder so. Sondern weil sie ein Stück Erinnerung war. Und ich daran gehangen habe. Tja, und nun habe ich sie weggeschmissen. Nicht, weil ich stark bin. Oder weil meine Trauer vorbei ist. Nein, es war einfach der richtige Moment. Und so wird es Stück für Stück vorangehen. Und dann bestimmt auch mal wieder Rückschritte geben. Aber das ist egal, denn „Trauer braucht Zeit“, sprach die Zitronenpresse.
In liebevoller Erinnerung: Marlis Deutschmann, 22.3.1930 - 22.5.2017
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